Heimseelsorge im Aufwind

Am Fuss des Rebberges liegt das Krankenheim Spiez. Seit vier Jahren wirkt Andrea Aebi als Heimseelsorgerin in diesem fruchtbaren "Weingarten", wo die unterschiedlichsten Menschen leben. Einblick in einen Heim Sommer-Morgen.

Neun Uhr, es ist Zeit die Rollstuhl fahrenden Gottesdienstbesucherinnen und -Besucher abzuholen. Zwei Männer sitzen still im Korridor der Wohngruppe E, die Frau schaut neugierig auf. Herzlich begrüsst Pfarrerin Andrea Aebi die Drei, wechselt mit allen ein paar Worte. Gleichgültig, ob sie eine hörbare Antwort erhält. Aus dem Saal erklingt Orgelmusik, rund zwanzig Menschen warten auf den Beginn der Feier. Nach dem Eingangspiel dringt ein Schnalzen und Gurren aus der hintersten Reihe. Zwei junge schwerstbehinderte Frauen liegen in ihren Pflegerollstühlen, sie sind sichtlich und hörbar freudig aufgeregt.

Langzeitpflegeheime werden zum Ort der Begegnung für Alle

Im Krankenheim Spiez leben 184 Menschen ab 30 Jahren gemeinsam in Wohneinheiten: suchtkranke, körperlich und/oder geistig beeinträchtigte, demente und/oder pflegebedürftige Menschen verschiedenster Generationen. Dazu kommen 30 Seniorinnen und Senioren, die im angrenzenden "Lina Schaeren Haus" selbstständig leben. Die Pfarrerin ist auch für das 330-köpfige Personal als Seelsorgerin da. Eine beachtliche Zahl Menschen für eine potenzielle "Heimgemeinde". Aber Andrea Aebi will Grenzen zwischen innen und aussen aufheben: "Die Bewohnerinnen und Bewohner des Krankenheims gehören zur Kirche, zur Gemeinschaft "draussen". Wer zu uns kommt, überschreitet zwar Grenzen, er verlässt seinen Lebensraum und tritt in einen Neuen. Doch für mich ist zusammen Kirche sein wichtig." Andrea Aebi räumt ein, dass dieser Gedanke nur beschränkt gelebt werden könne. "Unsere Bewohnerinnen und Bewohner kommen teilweise von weit her. Den Kontakt mit der bisherigen Kirchgemeinde in der Nordwestschweiz lebendig zu halten, ist viel schwieriger als mit dem Ortspfarrer von Frutigen." Zudem sei die Verinnerlichung der Dazugehörigkeit eine neuere Entwicklung und gehe Hand in Hand mit dem gesellschaftlichen Wandel. Stichwort Integrationsmodelle an Schulen. Das Krankenheim Spiez sei in der Langzeitpflege wegweisend. Nicht nur wegen des integrativen Wohn- und Pflegeansatzes, sondern auch deshalb, weil alle Kulturveranstaltungen, die öffentlichen Gastronomie-Angebote darauf zielen, das Krankenheim zu einem Ort der Begegnung für Spiezerinnen und Spiezer werden zu lassen.

Der Gottesdienst ist vorbei, ein rüstiger Senior kommt zielstrebig auf die Pfarrerin zu. Dieses Buch über Mohamed und Jesus müsse sie lesen, er freue sich bereits auf den Austausch mit ihr. Andrea Aebi lacht und meint, sie geniesse den theologischen Austausch mit den Menschen hier, auch wenn die Sommer-Bücherkiste jetzt noch schwerer werde. Die Anstellung in Spiez ermögliche ihr eine Kontinuität in der Beziehungsarbeit mit den Heim-Bewohnerinnen und Bewohnern. Was das bedeutet, zeigt sich, wenn die Seelsorgerin vor einem Rollstuhl kniet, still wird, die Hand auf den Unterarm des Sitzenden legt und ihn anblickt. Ihr Gegenüber kann nicht reden, kaum die Finger bewegen und doch wird die Schreibende Zeugin, wie die zwei kommunizieren. Es falle ihr schwer zu erklären, was vor sich gehe, meint Aebi, aber da sei etwas - eine Art Kern im Menschen, der unabhängig von körperlicher Versehrtheit Kontakt und Verständigung ermögliche.

Heimseelsorge das neue Traumpfarramt?

Die Ausbildung dauert lange, die Anforderungen sind hoch und trotz oder gerade deshalb melden sich auf eine ausgeschriebene Stelle in der Heimseelsorge immer mehr Pfarrerinnen und Pfarrer. Grund dafür könnte das abwechslungs-reiche Pflichtenheft, aber auch das gestiegene Prestige sein, meint Andrea Aebi. Die Schaffung von Anstellungen in den Heimen selbst, habe die Tätigkeitspalette erweitert. Nebst der klassischen Seelsorge gehören heute auch Weiterbildungen für Mitarbeitende zum Beruf oder Veranstaltungen im Heim anzuregen. Das kann ein Filmnachmittag oder ein Vortrag mit anschliessender Diskussion sein, oft gemeinsam mit Fachpersonen aus der Pflege oder Medizin organisiert", berichtet Aebi. Schlichten zwischen Heimbewohnern oder zwischen Pflegenden und Bewohnern komme im Sinn einer Mediation auch hin und wieder vor. Meist reiche aber das blosse Zuhören, sie diene dann als "Blitzableiter", schmunzelt die Pfarrerin. Herausforderungen sieht sie im Erwachsenenschutz. Konkret beschäftigt sie die Anwendung des neuen Gesetzes: Wann ist ein Mensch dement? das Thema Patientenverfügung, Recht auf Selbstbestimmung, etc. Die Zusammenarbeit mit den Pflegenden, der Heimdirektion, den Angehörigen und den Ortspfarrerinnen und -Pfarrern erlebt sie als sehr gut. Zusammen bildeten sie ein tragendes Netzwerk. Andrea Aebi sagt, sie sei an den Herausforderungen gewachsen und sie hätte nie an ihrer Wahl gezweifelt. Heimseelsorge war ihr Berufsziel und damit steht sie nicht alleine da.

Die Luft flirrt in der Mittagshitze. Im Schatten einiger Baumriesen wird in kleinen Gruppen oder alleine gegessen. Wie nährt sich die Seele? Andrea Aebi achtet die vielfältigen spirituellen Überzeugungen der Bewohnerinnen und Bewohner. "Ich mache keine Therapie. Als Heimseelsorgerin biete ich mich als Begleiterin in schwierigen Zeiten und zum Teilen kleiner und grosser Freuden an. Wenn erwünscht, werden wir Seelsorger Teil des Beziehungsnetzes im Heim." Ihre eigene Spiritualität wird genährt durch die Begegnungen, Gespräche und Sternstunden des Zusammenlebens. "Wenn eine Seniorin, den anfänglichen Widerständen der eigenen Tochter zum Trotz, eine Junkie-Frau als Enkelin ins Herz schliesst – das ist für mich so ein Moment!" Das berühre tief und stärke auch sie, erzählt Pfarrerin Aebi.

Strukturen öffnen lebenswichtige Räume

Andrea Aebi arbeitet einerseits als Ortspfarrerin (Schwerpunkt Heimseelsorge) und als Heimseelsorgerin im Krankenheim Spiez. Was sind die grundlegendsten Veränderungen der Heimseelsorge in der letzten Dekade? "Mich dünkt, die Heimseelsorge ist aus dem früheren Schattendasein heraus getreten. Ausgelöst durch innerkirchliche und kantonale Strukturänderungen. Die Ressourcenkürzungen verunsicherten zunächst die Ortsseelsorger, die bisher auch für die Heimbewohner zuständig waren. Wie sollten sie den Dienst noch bewerkstelligen? Heute schätzen viele Kolleginnen und Kollegen, dass es im Krankenheim eine Pfarrerin gibt, die für die ehemaligen Gemeindemitglieder da ist." Sie erinnert sich auch, wie die Erwartungen an die Pfarrpersonen gestiegen sind. Den Superpfarrer, der mit Jugendlichen genauso gut umgehen kann wie mit pflegebedürftigen Leuten und für alles Zeit habe, gebe es nicht. Die Schaffung von Heimseelsorger-Stellen in den Institutionen selbst mache Sinn und sorge für eine klare Rollenverteilung in den Pfarrämtern. Die höhere Gewichtung der Heimseelsorge ginge Hand in Hand mit der zunehmenden Akzeptanz und der steigenden Nachfrage nach palliative Medizin-Angeboten, glaubt Aebi. Obwohl die Spitäler und Heime grossem Spardruck ausgesetzt sind, stellt die Seelsorgerin erfreut fest, dass die Leitungen der Institutionen sich für die Finanzierung der Seelsorger-Stellen einsetzen. Andrea Aebi beobachtet eine neue Tendenz: Pflegeheime überlegen sich, im Verbund Seelsorgerinnen und Seelsorger anzustellen. "Seelsorge ist mittlerweile Bestandteil des palliativen Pflegekonzepts." Die Kirche wird als Partner gesucht, was die Kirche bietet, ist gefragt. Es sei zu hoffen, dass die Kirche darauf eintrete, dass sie dorthin gehe, wo Mitglieder darauf warten, Kirche zu erleben.

Barbara Richiger

Pfarrerin Andrea Aebi ist für Heimbewohner/innen, Angehörige und Pflegende da.