Religiosität

Im Verborgenen schlummert weit mehr religiöses Bedürfnis, als sich äusserlich konstatieren lässt. In der Tiefe der Herzen schlummert die Frage nach Gott. 1878

Durch die Grosszahl der Berichte geht ein wehmütiger Zug, dass grosse Volkskreise und ganze Klassen der Bevölkerung dem religiösen Denken und Leben sich augenscheinlich mehr und mehr entfremden. 1882

Es ist nicht leicht, mit den Leuten über religiöse Dinge zu reden. 1882

Ein viel grösseres Kapital religiösen Lebens ist in unserem Volke vorhanden als man nach der oft rauen und derben Aussenseite vermuten sollte. 1886

Man will nach der Lehre der heiligen Schrift selig sterben, obschon man ziemlich allgemein nicht daran zweifelt, dass diese Seligkeit sich verdienen lässt und man sie auch verdienen wird durch gute Werke, als da sind: ordentliche Haushaltung, gute Erziehung der Kinder, Almosengeben und Predigtgang. 1886

Ohne dass sich gerade atheistische Elemente geltend machen, lässt man den lieben Gott einen guten Mann sein, dem man anständigerweise hie und da in der Kirche eine Visite macht. Von einem das ganze Leben bestimmenden tiefen Abhängigkeitsgefühl, von einem Dürsten der Seele nach dem lebendigen Gott ist bei der Mehrzahl wenig zu bemerken. 1886

Das religiöse Leben ist dem Volkscharakter gemäss sehr nüchtern und zurückhaltend. 1886

Religion im Gewande des Fanatismus, der Ausschliesslichkeit und der Verdammung Anderer kann unser Volk nicht ertragen. 1890

An Gewohnheitschristen fehlt es nicht; aber wir wollen diese Stufe des religiösen Lebens nicht geringschätzen. Sind es Gewohnheiten, so sind es jedenfalls nicht schlechte Gewohnheiten. 1890

Der religiöse Sinn offenbart sich weniger in Worten und überströmenden Gefühlen als in einem sittlichen Wandel, in Beobachtung von Zucht und Ordnung. 1890

Es ist durchaus nicht die Art unserer Leute, von der Religion viel Aufsehens zu machen. 1894

Man will immer noch die jenseitige Seligkeit verdienen. 1894

Religiosität im weitesten Sinn ist noch vielfach vorhanden, aber bei der Mehrzahl ist dieselbe wenig ausgeprägt christlich; sie ist äusserlich ererbt und angewöhnt. 1894

Das tägliche Leben bewegt sich viel weniger als früher in religiösen Formen. 1894

Es scheint ein Moment geistiger Art mehr und mehr in alle Schichten der Bevölkerung durchzusickern, das ist das moderne Prinzip der Glaubensfreiheit. 1898

Lange Jahre half die Tradition im Zusammenhalt der kirchlichen Bande; jetzt erst werden allgemein die Konsequenzen gezogen von der Gleichberechtigung aller religiösen Gemeinschaften und von der Gleichberechtigung unkirchlicher und antikirchlicher Grundsätze. 1898

Man kennt die Religion vielfach nur als Hilfsmittel zur Erlangung der Seligkeit im jenseitigen Leben und auch zur Gewinnung des zeitlichen, materiellen Segens für Haus, Feld und Stall. 1902

Auch bei uns fehlt es nicht an solchen, die mit aller Religion gebrochen zu haben scheinen. 1902

Gibt es einen Gott? Die Antworten würden öfter als wir meinen verneinend ausfallen, jedenfalls aber würden sie in vielen Fällen eine grosse Unsicherheit ausweisen. 1906

Man möchte auf den Glauben der Väter als auf ein altes Erbstück nicht ganz verzichten. 1906

Hauptpfeiler der Religiosität ist der Gottesglaube. 1906

Als die Quintessenz des Christentums betrachten sehr viele das Rechttun. 1906

Religion und Glaube sind dazu da, dass es einem einst in einer andern Welt nicht fehle. 1906

Der religiöse Grundzug ist Gottesfurcht, Vertrauen auf seine Vorsehung und Ergebung in seinen Willen. 1909

Darum wollen wir das vorhandene Durchschnittsmass von religiösem Leben nicht geringschätzen, sondern es als eine wertvolle, gottgeschenkte Grundlage ansehen, auf der wir weiterbauen dürfen. 1909

Gott, Freiheit, Unsterblichkeit – diese drei Worte bezeichnen heute noch unerschütterliche Pfeiler in der Glaubenslehre unseres Volkes. 1920

Wir werden in unsrer so ökonomisch denkenden Zeit, statt zu guten Haushältern, zu Geizhälsen gegenüber unsern Seelen. 1930

Gebot der Stunde ist die Schaffung einer Einheitsfront gegen das, was die Theologen zusammenfassen unter dem Begriff Säkularismus, was so viel heisst als zielbewusste Ausschaltung Gottes und der Religion aus Kultur und Volksleben. 1930

Gewiss, man ist protestantisch, weil man so geboren, getauft und unterwiesen ist; aber von dem, was das Wesen des Protestantismus ausmacht, vom Grundsatz der Rechtfertigung aus dem Glauben zumal, ist vielerorts nicht viel zu finden. 1930

Das ganze Denken ist weithin säkularisiert. 1940

Manches, was als teures Erbgut an Frömmigkeit dagewesen ist, sinkt wie der Grundwasserspiegel in der Trockenheit langsam ab. 1950

Von Indifferenz kann nur geredet werden gegenüber den kirchlichen Institutionen, nicht gegenüber den religiösen Fragen überhaupt. Der Mensch sucht nach ewigen Werten. 1950

Der Atheismus der ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts scheint eingeschlafen zu sein. 1960

Nicht dass die (meisten) Menschen heute areligiös eingestellt sind. Die Religiosität manifestiert sich in vielfältigen Formen. 1980

Das Allgemein-religiöse findet oft mehr Anerkennung als das Eigentlich-christliche. 1980

Wir gehen einem rapid zunehmenden Schwinden christlichen Gehaltes im Bewusstsein der Menschen entgegen. 1980

Der soziale Wandel der letzten Jahrzehnte, gekennzeichnet unter anderem durch eine zunehmende Differenzierung und Individualisierung der Gesellschaft, hat auch vor der Institution Kirche nicht Halt gemacht. Die Freiheit zu wählen und von allem das scheinbar Beste auszulesen, stellt das Wesen der Kirche und ihrer Gemeinden in Frage. Dabei ist nicht eine Abnahme der Religiosität der Menschen auszumachen. Vielmehr sind es veränderte Muster religiösen Verhaltens, denen die überlieferten Formen Platz machen müssen. 2000