Seelsorge im Gefängnis

Eine multikulturelle, unfreiwillig gebildete Gemeinschaft lebt auf Zeit im Gefängnis. Der Freiheitsentzug führt zur existenziellen Ausnahmesituation, weder die Sauberkeit der Anlage noch die Höflichkeit des Personals löschen das Delikt und dessen Konsequenz aus. Mann oder Frau ist drin.

Verwaltungsgebäude reiht sich an Verwaltungsgebäude, zeitgenössische Architektur, klare Linien, dunkel gehaltene Farben, nichts Auffälliges. Man muss schon genau hinsehen, um bei einem Bau Stacheldraht und starke Scheinwerfer zu entdecken. Franziska Bangerter Lindt, die Gefängnisseelsorgerin des Regionalgefängnis’ Burgdorf, weist den Weg. Freundlich und zuvorkommend ist der junge Mann in der Loge, ein Formular muss ausgefüllt und die Identitätskarte deponiert werden, dann vernehme ich ein leises Klicken, die Tür ist offen.

Diese Welt ist der Pfarrerin Franziska Bangerter Lindt vertraut. Seit 16 Jahren ist die zierliche, herzliche Frau als Gefängnisseelsorgerin für Insassinnen, Insassen und das Personal in vier Haftanstalten da. Hier in Burgdorf ist sie seit fünfzehn Jahren einmal in der Woche tätig. Das Regionalgefängnis Burgdorf kann bis zu 110 eingewiesene Männer, Frauen und Jugendliche aufnehmen. Die Haftarten[1] reichen von kurzen Freiheitsstrafen (max. 30 Tage) über die Untersuchungshaft, Ausschaffungs- und Auslieferungshaft, bis zum Strafvollzug. Der Mikrokosmos Gefängnis ist ständig in Bewegung, ist komplex und der Umgang mit den Eingewiesenen verlangt ein hohes Mass an Klarheit, Geduld und Einfühlungsvermögen.

"Ich lese keine Krimis mehr"

Im internen Postfach der Seelsorgerin liegt ein Bündel gelber Zettel, mit denen die Insassen Franziska Bangerter Lindt kontaktieren können. "Jede Woche ist anders, ich weiss nie, wer noch da ist, wer neu ist, wer verlegt, entlassen oder in das Herkunftsland zurückgeführt wurde. Für die seelsorgerische Beziehung ist es natürlich von Vorteil, wenn ich jemanden länger begleiten kann, aber der Beruf bietet auch die Chance, sich auf den Moment einzulassen. Auf die 30 – 45 Minuten mit einem Menschen, seiner Geschichte, seinen Anliegen, es ist eine anspruchsvolle Situation, die mich fordert und mich erfüllt." Als Franziska Bangerter Lindt, nach drei Jahren im Pfarramt in einer Bieler Kirchgemeinde und zehn Jahren als Beauftragte für Flüchtlingsfragen an der Fachstelle Migration, die Ausbildung zur Gefängnisseelsorgerin abschloss, war sie Mutter von zwei kleinen Kindern und als Frau eine Minderheit ihres Berufsstandes. Sie erinnert sich, wie besorgt die Aufseher um sie gewesen waren, wenn einer der "harten Jungs" zu ihr ins Gespräch kam. "Übergriffe auf Vollzugsbetreuer kommen selten vor, das Klima ist in den letzten Jahre aber rauer geworden, doch ein Übergriff auf eine Seelsorgerin, einen Seelsorger ist mir nicht bekannt", berichtet die Pfarrerin und erläutert: "Mich dünkt, als Vertreterin der Kirche, als Frau, als Ehefrau und Mutter begegnen mir die Männer mit Respekt, es ist ein Kodex. Bei mir als Frau trauen sich viele Männer auch ihre weichere Seite zu zeigen und Schwächen einzugestehen." Heute sind insgesamt fünf Gefängnisseelsorgerinnen im Kirchengebiet tätig. Damit die Insassen zwischen einer Frau und einem Mann wählen könnten, würde die Burgdorferin es gutheissen, wenn vermehrt im Team gearbeitet werden könnte.

Die Seelsorgerin ist oft, aber nicht immer über die Delikte informiert. Im Gespräch mit den Angeklagten und den Verurteilten hört sie deren Geschichte. "Es gibt nichts, was es nicht gibt. Ich habe unglaubliche Lebensgeschichten, überraschende Kehrtwendungen, schreckliche Verbrechen, verfahrene Umstände berichtet bekommen, habe in Abgründe des menschlichen Seins geschaut, aber auch Hoffnung gesehen und Veränderung, Versöhnung erlebt." Krimis liest Franziska Bangerter Lindt keine mehr. Eine Tat, ein reeller Prozess zu Gericht und im Innern der Menschen seien weit komplexer als erfundene, zwischen zwei Buchdeckel geklemmte Szenarien.

Ein Paravent durchbricht die strikte Ordnung des kargen Raumes, auf den Stoff sind Bilder gesteckt, welche Insassen gemalt haben. Auf der Kante liegt ein grauschwarzer gestrickter Tausendfüssler, auch er ist ein selbstgemachtes Geschenk eines inhaftierten Mannes. Ein Tisch und drei Stühle stehen auf knallgrünem Novilon, in der Ecke ein schmaler Schrank, darin stehen Bibeln und Korane. Wir warten auf den Insassen Y. Auf dem Tisch brennt eine Kerze vor einer Ikone. Schritte nähern sich, Schlüssel klappern, die Tür geht auf und der Mann tritt ein. Die Betreuerin und der Betreuer verabschieden sich und schliessen die Tür zu. Der Mann ist sehr schlank, der Körper zusammengesackt, die Fingernägel sind abgekaut, ein bleiches Gesicht, er lächelt verlegen, reicht die Hand und setzt sich; unter dünnen Beinhosen trägt er dicke Wollsocken. Die Schlagzeilen verschwinden aus meinem Kopfkino. Ich höre zu. Der Mann erzählt, wie er das Leben einfach "passieren" liess, nichts draus gemacht hat... Es sei an der Zeit, dass er es packe, schliesslich sei er fast in der Lebensmitte angekommen. Doch erst müsse er sich in Ordnung bringen, er wolle so bald wie möglich verlegt werden und endlich die Therapie beginnen. Warum es solange dauere? Er wolle, dann – später – seinen Töchtern wieder begegnen. Er habe die Schuld gestanden, das Warten zermürbe ihn, seit mehreren Monaten sei er bereits im Regionalgefängnis. Y schildert, wie hin und wieder die Nerven reissen und er verbal mit anderen Häftlingen und mit Vollzugsbetreuern aneinander gerät. Er habe sich jeweils entschuldigt und alles sei wieder gut. Franziska Bangerter Lindt fragt nach, betont wie wichtig der faire, respektvolle Umgang miteinander sei. Sie erklärt, dass es manchmal länger daure, bis ein Platz im therapeutischen Massnahmenvollzug frei werde, geduldig und ermutigend erklärt sie ihm das Vorgehen. Dann spricht die Seelsorgerin seinen Therapiewunsch an. Die Verarbeitung der Tat beanspruche Zeit, für alle — sowohl für den Täter als auch für die Opfer. Die Seelsorgerin spricht umsichtig, lenkt das Gespräch auf die heiklen Punkte, ohne zu drängen und bietet so Gelegenheit für Reflektion. Und dann ist die Zeit um, er möchte nicht gehen, lieber aufs Essen verzichten; doch Franziska Bangerter Lindt beendet das Gespräch. Kurze Zeit später klopft es, Y verabschiedet sich "bis nächsten Dienstag". Die Betreuer führen ihn ab.

Schuld und Sühne, Erkenntnis und Versöhnung

Die Wiedergutmachung nimmt einen wichtigen Teil der Vollzugsziele[2] ein und nimmt den Begriff der Versöhnung auf. Franziska Bangerter Lindt meint dazu: "Die Versöhnung mit der eigenen Biografie, mit der Vorgeschichte zur Tat und mit der Tat selbst ist existenziell. Mit dem nächsten Schritt rückt Versöhnung im Kontext der Angehörigen, der eigenen und der Opfer, ins Blickfeld." In den Gesprächen mit den Tätern wehrt sich die Seelsorgerin gegen Bagatellisierung, bewusst bringt sie die Opfer ein. Die Art und Weise hängt vom Einzelnen und vom Aufenthaltsort ab: "Therapeutische Massnahmenzentren erlauben dem Delinquenten, die emotionalen Schleusen zu öffnen und sich der Flut von Schuld, Verzweiflung, Wut etc. zu stellen. Menschen, die ein schweres Verbrechen begangen haben, spüren instinktiv, dass die Aufarbeitung der Tat viel Zeit und Raum braucht. Das Verdrängen und Verharmlosen ist oft ein Schutz, weil die Schwere der Tat die Menschen zuerst überfordert. Erst mit der Zeit sind sie bereit, sich der Tat mit all ihren Folgen zu stellen."

Manche Fälle lassen Franziska Bangerter Lindt fragen: "Wo ist Gott?". Sie spüre dann eine Sehnsucht nach einer spürbaren Präsenz Gottes. Es gäbe diese Momente, wo sie spüre, dieser Mensch mit all seinem Sein und Tun werde begleitet, sie nehme wahr "der Mensch ist nicht alleine".

Auch leichtere Delikte kehren die Welt auf den Kopf. Manchmal ist dies die Chance das Leben neu zu ordnen. "Hier drinnen vermisse ich meine Kinder. Das ist schlimm", erzählt die junge Frau X. "Aber sonst... Es tut gut, nichts entscheiden zu müssen, zur Ruhe zu kommen, keinen Stress mehr zu haben." Es sieht aus, als ob sie bald "raus komme". Was sie für Pläne habe, fragt Franziska Bangerter Lindt. Die dunklen Augen beginnen zu leuchten. Sie wolle eine Stelle finden, am liebsten in einer Küche, Geld zur Seite legen und dann ihren Traum verwirklichen: eine Ausbildung als Kosmetikerin machen. Aber erst muss sie eine Wohnung suchen. Der Blick verdunkelt sich. Der Partner. Er sitzt auch in Untersuchungshaft, durch seine Machenschaften sei sie in die Illegalität gerutscht. Aber sie hätte ihn doch geliebt, in der Bibel stehe doch geschrieben, man solle einander vergeben! Hat nicht auch er eine zweite Chance verdient? Behutsam mahnt die Seelsorgerin zur Vorsicht. Der Brief, den X in den Händen hält wie einen Schatz, zeige, dass der Mann sie nicht verlieren wolle, aber ob er sich in so kurzer Zeit grundlegend verändert habe? Ob er sie künftig wirklich respektvoll behandle, sie nicht mehr kontrolliere und ihr keine Gewalt mehr zufüge? Die Pfarrerin ermutigt X, die Pläne für ein eigenständiges Leben umzusetzen und sich nicht von den Wünschen des Mannes abhängig zu machen. Die Wolken verziehen sich auf dem hübschen Gesicht. Die Schwester habe ihr angeboten, zu ihr zu ziehen, bis sie etwas Eigenes habe und wolle ihr dabei helfen, eine Stelle zu finden. Sie lese täglich die Bibel und wisse, dass sie neu anfangen könne.

Man muss Menschen mögen

Diese vier M's sind das Leitmotiv der Gefängnisseelsorgerin. "Es kommt selten vor, dass ich keinen Zugang zu jemandem finde. Ich achte in solchen Situationen auf meine Energien und sorge dafür, dass ich genügend Ausgleich finde. Meine Batterien lade ich im Zusammensein mit meinem Mann, meiner Familie, meinen Freunden und in der Natur auf." Die Kräfte gut einteilen, das müssten auch die Kolleginnen und Kollegen, die Tag für Tag im Gefängnis arbeiten. "Ist das Personal gut gestützt, geht es allen gut!" Im grossen Pausenraum treffen sich Pflegefachleute, Aufseherinnen, der Direktor und sein Stellvertreter und mittendrin Franziska Bangerter Lindt. Es ist offensichtlich: Sie ist Teil des Betriebs. Es werden Informationen ausgetauscht. Persönliches hat auch Platz. Die Seelsorgerin nimmt den Auftrag, für das Personal da zu sein, ernst und erklärt, bei ihr könne mal Dampf abgelassen oder Privates besprochen werden. Sie sei für alle im Gefängnis da, wenn jemand gemeinsam beten wolle, einfach Abwechslung brauche, mit einem Kollegen Knatsch habe oder mit jemandem reden wolle, der nichts mit dem laufenden Verfahren zu tun habe.

Eine Personengruppe aber stehe alleine da, meint die erfahrene Gefängnisseelsorgerin - die Angehörigen von Delinquenten. Auf Wunsch stellt Franziska Bangerter Lindt den Kontakt zur jeweiligen Ortspfarrerin her.

Barbara Richiger

 


[1] Die komplette Liste der Haftarten, siehe URL Regionalgefängnis Burgdorf am Ende der Reportage.

[2] S. Punkt 2 Bericht Willy Nafzger: Die neuen Bestimmung im Allgemeinen Strafgesetzbuch.

Links

Pfarrerin Franziska Bangerter-Lindt, Gefängnisseelsorgerin im Regionalgefängnis Burgdorf-Neumatt und im Massnahmezentrum St, Johannsen, Le Landeron.
Aussenansicht der Gefängnismauern.
Hinter Schloss und Riegel.